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„Wir lassen nichts unversucht“

OB Reiter über Schutz und Sicherheit, Hilflosigkeit und Herausforderungen, Kompetenzen und den richtigen Plat

Dieter Reiter: "Kinder reagieren meist sehr natürlich und finden Zugang zueinander, ohne sich auf die schrecklichen Erlebnisse zu beziehen." (Bild: Manuel Rudel / Stadt München.)

Mehr als 20.000 Schülerinnen und Schüler, die aus der Ukraine geflüchtet sind, sind bisher an bayerischen Schulen aufgenommen worden – über alle Schularten hinweg. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter erläutert im Gespräch mit Johannes Beetz, wie die Stadt ukrainischen Kindern und Jugendlichen zur Seite steht.

„Schule kann zur Stabilisierung beitragen“

Kinder, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, haben ihr komplettes Lebensumfeld verloren: Das Zuhause, der Freundeskreis, die gewohnte Umgebung - alles, was Sicherheit und Stabilität geben kann - ist für immer weg. Wie kann die Schulfamilie diese zutiefst verletzten Kinder auffangen? Haben wir überhaupt pädagogisches Personal, das sich angemessen auf diese Kinder einstellen kann? Gerade die seelischen Traumata sind von außen ja kaum wahrnehmbar.

Dieter Reiter: Zunächst einmal kommt es darauf an, Sicherheit zu vermitteln. Dazu kann Schule einen wesentlichen Beitrag leisten, indem der Schulbesuch verlässliche Abläufe im Alltag der Kinder und Jugendlichen schafft und in einem geschützten, sicheren Rahmen stattfindet. Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen mit Gleichaltrigen zusammen sein können und durch Bewegung und Ablenkung Stressreaktionen abbauen können. So kann Schule zur Stabilisierung beitragen. Um Lehrkräfte für mögliche Auswirkungen von Flucht und Krieg zu sensibilisieren, einen professionellen Umgang mit potentiell traumatisierten Schüler*innen zu unterstützen, haben wir kurzfristig Fortbildungen durch unseren Zentralen Schulpsychologischer Dienst angeboten. Schulpsycholog*innen können Anzeichen wahrnehmen, die Schüler*innen und Kolleg*innen im Umgang mit möglichen Symptomen unterstützen und ggf. an geeignete Stellen weitervermitteln.

„Kinder finden Zugang zueinander“

Kinder, die Krieg "in echt" erleben mussten, haben eine völlig andere Lebenserfahrung (und völlig andere Zukunftsperspektiven) als Gleichaltrige hier, die solche Dinge schlimmstenfalls vom Fernseher kennen. Den kann man ausschalten. Die Gedanken im Kopf nicht. Im Kindergarten werden ukrainische Kinder manche Bilder malen, die Münchner Kinder verstören werden. Wie können wir "unsere" Kinder darauf vorbereiten, mit geflüchteten Gleichaltrigen umzugehen? Und wie geht man in Kita, Schule, Jugendeinrichtung in diesen Dingen überhaupt "richtig" miteinander um?

Dieter Reiter: Wir haben aus vielen Klassen die Rückmeldung, dass die Schüler*innen die neuen Klassenkamerad*innen sehr offen und unterstützend aufnehmen. Kinder reagieren meist sehr natürlich und finden Zugang zueinander, ohne sich auf die schrecklichen Erlebnisse zu beziehen. Wichtig sind zum Beispiel gemeinsame Unternehmungen - sei es auch nur eine Führung durchs Schulhaus, durchs neue Viertel. Wenn sich Unsicherheiten im Umgang zeigen, sollte den Fragen der Kinder Raum gegeben werden. Um auch die Eltern bei dieser Fragestellung zu unterstützen, hat der Zentrale Schulpsychologische Dienst Online-Elternabende organisiert, mit dem Thema „Auswirkungen von Krieg und Flucht auf Kinder und Jugendliche sowie Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern“.

„Mit diesen Eindrücken nicht allein bleiben“

Wie können wir den Krieg im Unterricht altersgerecht thematisieren? Sollten wir das überhaupt? Wie geben wir geflüchteten Kinder den geschützten Raum, über Erlebtes reden zu können, ohne sie gleichzeitig durch ein "Zuviel an 'Erzähl doch mal'" in die Sprachlosigkeit zu drängen?

Dieter Reiter: Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine lösen bei vielen Menschen Entsetzen, Mitgefühl, Furcht, das Gefühl der Hilflosigkeit oder auch Wut aus. Auch auf Kinder und Jugendliche stürmen die Nachrichten ein, sie schnappen Informationen auf oder informieren sich ausführlich. Es ist wichtig, dass sie mit diesen Eindrücken nicht allein bleiben. Sie brauchen Erwachsene, die sich gesprächsbereit zeigen und den Kindern keine Gespräche aufdrängen, sondern sich an den Fragen und an dem, was die Kinder beschäftigt, orientieren. Kinder und Jugendliche, die selbst Flucht und Krieg erlebt haben, sollten von Pädagog*innen nicht aktiv aufgefordert werden, von ihren Erlebnissen zu berichten, da dies die Kinder überfordern und zu einer „Re-Traumatisierung“ führen könnte. Auch die Gruppe der anderen Kinder sollte vor gewalthaltigen Erzählungen geschützt werden. Falls Erlebnisse von Flucht und Krieg von den Betroffenen selbst thematisiert werden, ist Zuhören und „da sein“ das Wichtigste. Manche Kinder, die traumatisierende Ereignisse erlebt haben, haben das Bedürfnis, immer wieder von den Erlebnissen zu erzählen oder je nach Alter die Erlebnisse im Spiel oder in Bildern auszudrücken. Auch dies dient der Verarbeitung. Führt es jedoch zu erhöhter Belastung und Stress, ist es notwendig, das Kind vom Thema wegzulenken, es ins Hier und Jetzt der sicheren Umgebung zurückzuholen.

„Wir haben als Stadt viel Geld in die Hand genommen“

Mal ehrlich: Digitaler Unterricht hat während Corona nicht wirklich gut funktioniert. Jetzt kommt die nächste Herausforderung auf die Schulen zu. Sind unsere Schulen jetzt besser vorbereitet, was z.B. die materielle Ausstattung angeht?

Dieter Reiter: Was die Digitalisierung und die IT-Infrastruktur angeht, war die Pandemie auf jeden Fall ein Katalysator. Wir haben als Stadt viel Geld in die Hand genommen und in Geräte und Netzwerktechnik investiert. Auch das fest installierte W-Lan wurde und wird schneller ausgebaut als geplant.

„Hier braucht es dringend Erleichterungen“

Uns fehlen Erzieher und Lehrkräfte; die Lehrerverbände schlagen da praktisch täglich Alarm. Woher sollen die Lehrkräfte kommen, die ukrainische Kinder nicht nur unterrichten, sondern die - ganz banal - zunächst mal ihre Sprache verstehen?

Dieter Reiter: Es ist tatsächlich schwierig, ausreichendes pädagogisches Personal - insbesondere ausgebildete Lehrkräfte - für die Willkommensgruppen zu finden, vor allem in Ballungsräumen wie München mit vielen Geflüchteten. Es gibt aber staatliche und auch städtische Plattformen zur Anwerbung von entsprechenden Personen. Ukrainische Lehrkräfte haben die Möglichkeit, sich bei der Landeshauptstadt München zu bewerben. Informationen dazu sind auf unserer Webseite muenchen.de auch auf Ukrainisch eingestellt. Für die Kitas wurden vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales bisher leider keine Hürden abgebaut. Hier braucht es dringend Erleichterungen bei den Einstellungsvoraussetzungen für pädagogisches Personal. Kurzfristig versuchen wir derzeit sogenannte „Willkommensgruppen“ einzurichten. Dabei werden die Kinder von einer städtischen Dienstkraft mit ukrainisch-russischen Sprachkenntnissen und einer neu eingestellten ukrainischen Person mit pädagogischem Hintergrund – auch ohne vorgeschriebene Deutschkenntnisse – betreut.

„Das ist eine riesige Herausforderung“

In München platzen - Schulbauprogramm hin oder her - etliche Schulen aus allen Nähten. Wir kommen mit dem Bauen nicht hinterher und manchmal ist schon vor dem ersten Spatenstich die Planung vom Bedarf überholt. Haben wir genug Platz für die Kinder aus der Ukraine?

Dieter Reiter: Genügend Platz haben wir selten. Aber im Ernst: München stemmt das größte Bildungsbauprogramm Deutschlands. Und die Investition in die Bildung unserer Kinder wird für mich immer Priorität haben. Durch die Modulbauweise konnten wir viele Abläufe beschleunigen. Trotzdem steigt der Druck durch die steigende Nachfrage weiter. Das ist eine riesige Herausforderung. Wir lassen aber nichts unversucht, um auch für die jetzt bei uns lebenden ukrainischen Kinder den richtigen Platz zu finden, je nach Sprachkenntnissen in den Willkommensgruppen oder in den Regelklassen.

„Es können neue Wege entstehen“

Das bayerische Schulsystem ist ganz anders als das ukrainische: Stehen wir da nicht vor unüberwindbaren Hürden?

Dieter Reiter: Das glaube ich nicht. Auch wenn sich die beiden Schulsysteme sicherlich unterscheiden, bieten die Abschlüsse im bayerischen Schulsystem gute Möglichkeiten für ukrainische Schüler*innen. Es könnten in Zukunft auch neue Wege der Kooperation entstehen, so dass ukrainische Schüler*innen etwa Prüfungen in ihrer Muttersprache ablegen könnten.

„Gut funktionierendes System etabliert“

Kaum ein Geflohener wird ein Schul- oder gar Abschlusszeugnis vorlegen können. Wer aus einer zerstörten oder besetzten Stadt kommt, wird z.B. für eine Bewerbung entscheidende Papiere nicht besorgen können, wenn er einen Arbeitsplatz sucht. Werden nicht schon an dieser Stelle viele potentielle Berufswege - ich denke auch an die bei uns fehlenden Fachkräfte in immer mehr Branchen - scheitern?

Dieter Reiter: Bisher ist die Nachfrage nach Dualer Ausbildung seitens ukrainischer Geflüchteter noch sehr gering. Die Kammern rechnen damit, dass dies erst im kommenden Jahr eintreten wird. Da ein Ausbildungserfolg immer mit einem erfolgreichen Spracherwerb einhergeht, wird Schulabsolvent*innen ohne ausreichende Deutschkenntnisse der Weg über Berufsintegrationsklassen bzw. Sprachkurse empfohlen. Dort können auch fehlende Schulabschlüsse nachgeholt werden. Die Landeshauptstadt München hat hier ein gut funktionierendes System und ein eigenes Kompetenzzentrum etabliert, das bereits 2016 vielen Geflüchteten helfen konnte. Mittlerweile sind viele der ehemaligen Schüler*innen der Berufsintegrationsklassen gut in die Stadtgesellschaft integriert.

"Rahmenbedingungen im Kultusministerium geregelt“

Ein Kind, das heute aus der Ukraine bei uns ankommt, kann morgen ja nicht einfach den Unterricht in einer Münchner Schulklasse fortsetzen. Die meisten werden mindestens ein ganzes Schuljahr verlieren. Wie können wir dafür sorgen, dass ukrainische Kinder bei uns an der richtigen Stelle ihre Schulkarriere fortsetzen können? Wie entscheiden wir qualifiziert, welche Schule, welche Klasse für jedes Kind gerade die passende ist? Gibt es so etwas wie Einstufungstests?

Dieter Reiter: Die Rahmenbedingungen werden vom bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus geregelt. Mit den aktuell aufgebauten Pädagogischen Willkommensgruppen soll eine erste schulische Integration der geflohenen Kinder und Jugendlichen ermöglicht werden. Daneben ist auch der Unterricht in bereits bestehenden, darauf eingerichteten Klassen oder Unterrichtsgruppen – z.B. Deutschklassen – möglich. Schülerinnen und Schüler, die bereits gute Deutschkenntnisse haben und ggf. auch notwendige Aufnahmeprüfungen absolvieren können - können direkt als Regelschülerin bzw. Regelschüler aufgenommen werden.

„Das Engagement wird nach wie vor gebraucht“

Viele Menschen haben Geflüchtete unterstützt, sei es mit Spenden oder in ihrem bürgerschaftlichen Engagement. Welche Spenden machen gegenwärtig Sinn, was wird benötigt, was ist vorhanden? Wo kann man sich ehrenamtlich engagieren?

Dieter Reiter: Das Engagement der Münchner*innen war von Beginn des Krieges in der Ukraine an großartig und wird nach wie vor gebraucht. Wer sich ehrenamtlich engagieren möchte, findet auf der Website www.muenchner-freiwillige.de verschiedene Möglichkeiten. Die Hilfswilligen können sich z.B für Schichtdienste bei der Ankunft und Vermittlung der Münchner Freiwilligen melden oder auch selbst kostenlose Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Ebenso finden sich auf der Webseite www.muenchen-hilft-ukraine.de Informationen zu dringend notwendigen Sach- und Geldspenden. Insbesondere Lebensmittel wie Mehl, Speiseöl, Hygieneprodukte und Babynahrung u.v.m. werden nach wie vor sehr gebraucht. Die Stadt selbst hat zudem ein Spendenkonto eingerichtet, mit dessen Hilfe Menschen im Kriegsgebiet, auf dem Fluchtweg und nach der Ankunft hier in München unterstützt werden. Auf der Internetseite unter www.muenchen.de/ukraine können Sie spenden.

„Sprechen Sie die Menschen an“

Wer ein Familienmitglied verloren oder einen anderen Schicksalsschlag erlitten hat, weiß, dass Trauer, Hilflosigkeit und Schmerz oft gerade dann mit Wucht zurückkehren, wenn man sie gerade überwunden zu haben glaubt. Ukrainische Familien werden in ähnlicher Weise langfristig Begleitung brauchen. Wie verhindern wir, dass wir in sechs, sieben oder acht Monaten im vermeintlichen Alltag nicht übersehen, wenn Unterstützung nötig wäre?

Dieter Reiter: Die Not ist oftmals sehr groß. Das Bildungs- und Beratungszentrum Refugio arbeitet hier federführend mit, um Trauer- und Schmerzbewältigung zu unterstützen. Deshalb zitiere ich hier gern Refugio: "Es ist richtig, dass Menschen oft nach Monaten feststellen, dass die Trauer oder Ängste nicht mehr weggehen. Viele beschreiben, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkennen. Wichtig ist, dass das Schweigen und die Scham darüber durchbrochen werden. Sprechen Sie die Menschen an, am Arbeitsplatz, in der Schule, als Nachbarn und fragen Sie ruhig auch nach Monaten, wie es den Menschen geht. Natürlich nur wenn es passt. Aber haben Sie keine Scheu, die Menschen freuen sich meistens über das Interesse. Die Stadt München bietet dann viele Angebote, wo die Menschen Hilfe bekommen können. Vielleicht helfen Sie auch bei der Anmeldung bei solchen Stellen. Dann kann das stille Leid oft in Bewegung kommen und heilen.“

"Die Kommunen schaffen das nicht allein“

Wie können wir langfristig stabile Brücken jenseits der ja äußerst erfreulichen Willkommenskultur bauen und die Menschen nachhaltig integrieren? Viele ukrainische Kinder, Jugendliche und Mütter werden kaum in den nächsten Wochen zurückkehren. Es gibt ja vielerorts nichts mehr, wohin man zurückkehren könnte. Manche werden Jahre, vielleicht ein ganzes Berufsleben oder für immer bei uns bleiben. Wie können wir sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche bei uns für ihre gesamte Schulkarriere und Ausbildung "aufgehoben" sind? Welche Lehren ziehen Sie da aus den Erfahrungen, die wir z.B. mit den Menschen aus Bosnien und Syrien gemacht haben?

Dieter Reiter: München hat eine sehr lange und gut eingeübte Tradition bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten, die nicht erst mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien beginnt. Die Stadt finanziert seit vielen Jahren Deutschkurse sowie Bildungs- und Orientierungsangebote für Geflüchtete, um allen von Anfang an die Integration in die Stadtgesellschaft zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit der hohen Anzahl an Geflüchteten zwischen 2014 -2016 hat der Stadtrat im Rahmen des Gesamtplans zur Integration von Flüchtlingen seine Position zum Thema Integration noch einmal bekräftigt: In München beginnt die Integration am Tag der Ankunft. Diese Maxime leitet uns auch heute, und gilt für die gesamte Stadtverwaltung. Aber auch wenn die zahlreichen beruflichen und ehrenamtlichen Akteure in München einen riesigen Einsatz leisten und die Integration der Geflüchteten (nicht nur) aus der Ukraine unterstützen: Die Kommunen schaffen das nicht allein. Auch Bund und Land müssen ihren Beitrag leisten, damit genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Und es müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit z.B. auch aus aufenthaltsrechtlicher Sicht für Geflüchtete möglichst früh eine langfristige Perspektive auf ein Leben in Deutschland geschaffen werden kann.

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