Gerberau, eine Allacher Siedlung mit Notkirchen für Flüchtlinge aus Böhmen und Schlesien
Stadtteilhistoriker Dr. Walter G. Demmel berichtet
Der historische Zugriff auf die Gerberau als nördlichster Teil von Allach-Untermenzing bereitet einige Schwierigkeiten, weil es sehr viel Berichtenswertes gibt. So ist zunächst das Allacher Schloss zu nennen, die Reihe denkmalgeschützter Häuser, das frühere Gelände von BMW, das Barackenlager, der Bahnhof und die Notkirchen. Aus aktuellem Anlass habe ich mich nun für die Notkirchen für die Flüchtlinge der Nachkriegszeit entschieden. Ich kann nämlich auf viel historisches Material zurückgreifen, das mir Frau Rubröder (Bild 1 u. 2), Frau Horn (Bild 3), Frau Haller (Bild 4 und 5) und Frau Biesel (Bild 6) freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.
Frau Rubröder und andere haben im Mai dieses Jahres im BA 23 einen Antrag auf Genehmigung zur Errichtung einer Erinnerungstafel an der Stelle der ehemaligen kath. Notkirche gestellt. Und der zieht sich leider hin. Als Gast habe ich damals den Antrag aus der Gerberau spontan unterstützt und zugesichert, wenn immer es geht, behilflich zu sein. Vielleicht hilft dieser Artikel im Oktober dieses Jahres mit. Nachdem ab 1938 BMW sein Flugzeugmotorenwerk im nördlichen Teil des Allacher Forstes errichtete, entstand westlich des Werkes und östlich der Bahnlinie München – Ingolstadt eine BMW-Werkssiedlung, die nach dem Oberbaurat und Brückenbaudirektor Heinrich Gerber benannt wurde. Heinrich Gerber war auch Mit-Gründer des MAN-Stammwerkes Gustavsburg. Nachdem das BMW-Werk durch MAN übernommen worden war, erhielt die Siedlung den Namen „Gerberau“, der 1957 amtlicher Ortsname wurde. Gleichzeitig benannte der Stadtrat die Haupterschließungsstraße „Gerberau“ nach ihm. Eine der wenigen Münchner Straße, die weder Straße, noch Platz, noch Weg heißen.
Die Gerberau als Siedlung zeichnet sich durch eine eigene Infrastruktur aus, nachdem schon vor 1960 die Gemeinde Karlsfeld erheblich näher als die Bebauungsgrenze Münchens war. So entstand im Oktober 1948 eine Volksschule für die BMW-Wohnsiedlung Karlsfeld, die dann durch die 1963/65 errichtete Verbandsvolksschule der Landeshauptstadt mit der Gemeinde Karlsfeld ersetzt wurde. Der S-Bahnhof Karlsfeld befindet sich nicht komplett in Karlsfeld, sondern teilweise in der Gerberau auf Allacher Flur. Nun zurück zu den Notkirchen.
Wenn wir den Lageplan der BMW-Wohnsiedlung (Bild 2) von 1946 betrachten, finden wir in der Verortung die Siedlungskirche, den Bahnhof Karlsfeld, die Bergetstraße, die Festhalle, die Volksschule und das BMW- und spätere MAN-Gelände. Da die Schrift in Bild 2 vermutlich nur schlecht oder nicht zu lesen ist, sei der Inhalt hier wörtlich wiedergegeben: „Die seit 1939 als Arbeitslager der BMW-Flugmotoren entstandene Siedlung diente nach dem Krieg zunächst als Lager für die (vorher BMW-Zwangsarbeiter, Dem.) aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Männer, im Zuge der Zusammenführung jedoch bald auch für Familien der Vertriebenen und Flüchtlinge. Neben den zweistöckigen Wohnbaracken gab es auch Gemeinschaftseinrichtungen wie die große Festhalle mit Kantine, Kino und Sporträumen (Nr. 21), Volksschule (Nr. 23), Post (Nr. 18), und Kaufläden (Nr. 22). Die Nummerierung der Häuser geht auf die ursprünglich vierstellige Zählung aller zum BMW-Werk gehörigen Gebäude zurück. Der Platz für die Baracke 13 blieb frei. An dieser Stelle entstand 1949 die Kirche (Bilder 3 und 4), 1950 das Pfarrhaus und 1956 das Jugendheim. Als die MAN das Werksgelände samt Wohnsiedlung 1957 übernahm, erhielt die Siedlung den Namen ‚Gerberau‘. Heute erinnert nur noch die Straßenführung vom Bahnhof zur MAN mit den alten Kastanienbäumen und der Gebäudekomplex von Kirche, Jugendheim und Pfarrhaus an die frühere Siedlung.“
Frau Rubröder spricht in ihrem Antrag an den BA 23 für das Heimatmuseum Karlsfeld und den Pfarrverband Karlsfeld St. Josef, für den der verstorbene Dr. Haller eine informative Chronik geschrieben hat, und bittet um die Errichtung der Gedenktafel (Bild 1) zur Erinnerung an die erste Flüchtlingskirche Bayerns St. Josef, die vor 70 Jahren in der damaligen BMW-Wohnsiedlung errichtet wurde. Sie entstand zwischen 1949 und 1967 auf dem Platz der ehemaligen Baracke 13 (Bild 2). Die Kirche geht auf den unermüdlichen Einsatz von Pfarrer Erich Goldammer (1909-1974) zurück, der als Vertriebener aus Gartitz bei Aussig (Sudetenland) nach Allach kam und sich der gläubigen Flüchtlinge in den Allacher Wohnlagern annahm. Aufgrund seiner Verdienste um den Bau einer Notkirche (Bild 5) und in Anerkennung seines dortigen Wirkens bei den Heimatvertriebenen wurde er von Kardinal Döpfner zum Geistlichen Rat ernannt.
In diesem Zusammenhang sei auch auf einen zweiten Flüchtlingsseelsorger hingewiesen, auf den Pfarrvikar (oder auch Kaplan) Rudolf Scholze, der ebenfalls aus Nordböhmen stammte. Er wurde in Leitmeritz zum Priester geweiht und war nach seiner Ausweisung von 1946 bis 1950 Lagerseelsorger in Allach, studierte dann in Regensburg Kirchenmusik, wurde Pfarrer in Polling bei Mühldorf, Pfarrvikar in Oberneukirchen und starb 1982 in Mühldorf.
Nicht vergessen werden soll auch der Bau einer evangelischen Notkirche 1950 in der Nähe der heutigen Wilhelm-Zwölfer-Straße, im Süden der Gerberau. Sie bestand unter diesem Namen bis 1964, als die Karlsfelder Cornelius-Kirche eingeweiht werden konnte. Man sieht auf Bild 6 oben das MAN-Gleis und im Hintergrund den Allacher Forst. Durch den Bau der Otto-Warburg- und Wilhelm-Zwölfer-Straße hat sich das Bild der Gegend erheblich verändert.
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH