Die Untermenzinger Bäckerei Schmid...
...und ein ungarischer Flüchtling von 1956, der in den USA zu Wohlstand kam
Wieder einmal verdanke ich einem aufmerksamen Zeitzeugen und geneigten Leser meines Buches und meiner danach folgenden Artikel im Werbe-Spiegel, dass ich auf das außergewöhnliche Schicksal eines ungarischen Flüchtlings aus dem Jahr 1956 aufmerksam gemacht wurde. Meinen Zeitzeugen werde ich in einem anderen Artikel als bayerischen Lederhosenspezialisten noch vorstellen. 1956 war er noch ein Knabe von neun Jahren, wohnte damals mit seiner Familie im Nebenhaus der Schmids, weiß heute noch viel über unseren Flüchtling Tibor zu erzählen und hat ihn mehrfach in New Jersey besucht.
Wir Älteren erinnern uns – es war auch das Jahr meines Abiturs im klösterlichen Internat der Benediktiner in Metten bei Deggendorf: 1956 kamen nach dem gescheiterten Aufstand in Ungarn fast 200.000 Menschen in den Westen, sie wurden auch in Bayern besonders freundlich empfangen, weil während der Zeit des Wirtschaftswunders die gesamte junge Bundesrepublik Deutschland dringend Arbeitskräfte suchte. Auch heute brauchen wir bis 2060 etwa 260.000 fachliche Zuwanderer pro Jahr! Der Spiegel vom 5. Dezember 1956 berichtete ausführlich über Ungarnflüchtlinge als junge Arbeitskräfte.
Zwei ungarische Jugendliche im Alter von etwa 14 Jahren landeten Ende Oktober 1956 nach einer abenteuerlichen Flucht ohne Eltern und ohne Sprachkenntnisse in einer Bäckerei in der Verdistraße, dessen Inhaber sich schnell entschloss, einen der beiden Flüchtlinge als Lehrling aufzunehmen, den andern, namens Tibor Vanyi, aber dem befreundeten Inhaber der Bäckerei Schmid in Untermenzing (Bild 1) zu empfehlen. Dort war man durchaus bereit, hatte aber kein Zimmer frei. So musste der Jugendliche im Zimmer von Schmid Junior, damals 20, untergebracht werden. Die beiden Bäckermeister hatten also alles richtig gemacht.
Noch einige Anmerkungen zu unserer Bäckerei Schmid. Der alte Schmid lernte den Bäcker- und Konditorberuf im elterlichen Betrieb in Kollbach bei Petershausen, zog vier Jahre lang als Geselle durch Deutschland, arbeitete von 1926 bis 1935 wieder im elterlichen Betrieb und baute sich dann in der damaligen Untermenzinger Parkstr. 18 seine eigene Bäckerei auf. Die Ware wurde damals noch mit einem speziellen Bäckerrad ausgeliefert. Auch Josef Schmid wurde zur Wehrmacht eingezogen und mußte deshalb seinen Betrieb von 1941 bis 1945 schließen. 1963 konnte er seinem Sohn Josef (damals 27), einen rundweg gesunden Bäckereibetrieb übergeben. Die Ankunft von Tibor 1956 fällt also noch in die Zeit des alten Meisters.
Der heutige Schmid Senior (Jg.36) erzählte mir eine Stunde voller Begeisterung von den Erfahrungen, die man mit diesem Tibor machte. Er entwickelte sich in kürzester Zeit zum besten Lehrling, den man bisher ausgebildet hatte, auch in der Berufsschule gehörte er zu den Besten. Er lernte am Arbeitsplatz von drei Mitarbeitern und im Gespräch mit Kunden, für die er auch Backwaren mit dem Bäckerrad ausfahren musste (durfte), unheimlich schnell die deutsche Sprache mit einem leicht bayerischen Akzent. In der Backstube arbeitete er mit Schmid Josef sen., Schmid Josef jun. und einem Gesellen zusammen. Das frühe Aufstehen war für ihn offensichtlich kein Problem. Er hatte den Ehrgeiz, alles möglichst gut und schnell zu lernen. Berufsschulzeugnisse konnte ich nach so vielen Jahren nicht mehr aufstöbern, weil die damaligen Schulleiter nicht mehr leben, aber auch einer der letzten, den ich selbst noch kenne, wußte dazu nichts Näheres.
Tibor war artistisch veranlagt, körperlich durchtrainiert und hatte Spaß daran, nicht durch die Tür ins Haus und sein Zimmer zu gelangen, sondern erreichte es durch Erklettern der vor dem Haus stehenden Kastanie (Bild 2). Wenn es gerade seinem täglichen Bewegungsdrang entsprach, ging er im Nebenhaus per Handstand in den 1. Stock auf Besuch zur oben erwähnten Familie Maier-Stadlbauer. Wie mir berichtet wurde, spielte er als Jongleur mit fünf, manchmal sogar mit acht alten Semmeln.
Die sportliche Veranlagung hatte er sicher von seinem Vater geerbt, der Trainer von László Papp, dem ungarischen Mittelgewichts-Boxer, dreifachem Olympiasieger und Profi-Europameister, war und selbst ungarischer Amateurmeister des Jahres 1934. Man muss sich also nicht wundern, wenn dieser Jugendliche die besten körperlichen Voraussetzungen mitbrachte, um auch eventuell im Zirkus eine Zukunft zu finden. Die folgenden Bilder 3 und 4 zeigen Tibor mit Schmid jun. vor der Haustüre und vor dem Ofen der Bäckerei. Tibor arbeitete noch einige Jahre bei seinen Förderern, machte sich nach Hamburg auf und heuerte auf einem deutschen Frachtschiff als Schiffsbäcker und Konditor an. Lange hörten die Schmids nichts mehr von ihm, bis er sie eines Tages mit seinem neuen Auto, einem Borgward Isabella besuchte. Dieser PKW, an den sich unsere ältere Generation sicher noch erinnert, wurde von 1954 bis 1961 in Bremen gebaut und dürfte von Tibor dort gebraucht gekauft worden sein, war aber ein deutliches Zeichen seines gestiegenen Einkommens.
Tibor kam aber gerade zu einer günstigen Zeit, weil Schmid jun. 1963 heiraten wollte. Seine Isabella wurde zum hochzeitlich geschmückten Brautwagen, in dem er die Braut Monika aus Feldkirchen zur Trauung abholte. Nach diesem festlichen Ereignis machte er sich bald auf zu einer längeren Reise in die USA, die später seine Heimat werden sollten. Er heuerte dieses Mal auf einem US-amerikanischen Frachtschiff als Koch – eine nachgeholte Ausbildung – und Bäcker an, kam in die Position des Stewards, also des Chefs, und erlangte bald die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Als solcher wurde Tibor auch wehrpflichtig und mußte auf US-Frachtschiffen im Vietnamkrieg (1965-1975) die amerikanischen Truppen unter gefährlichsten Umständen, d.h. in ständiger Lebensgefahr, mit Nachschub versorgen.
Nach seiner glücklichen Heimkehr heiratete er eine Amerikanerin aus Santo Domingo, mit der er noch heute in New Jersey lebt. Im und nun zu Lande wurde Herr Vanyi Chef eines Lebensmitteldepots in einem Ozeanhafen, von dem aus die Stewards der Frachtschiffe Lebensmittel bestellten und verluden. Im Bild 5 ist hinten der graue Herr Vanyi, vorne in der Mitte die blonde Frau Vanyi und links Herr und Frau Schmid zu sehen. Die Vanyis machten noch mehrmals Besuch bei ihren Untermenzinger Freunden und ließen sich nie ihre ausführlichen Stadtbesuche in München entgehen. Viele Jahre bekamen die Schmids und Herr Stadlbauer Weihnachtsgrüße (Bild 6) mit Fotos der Enkelkinder.
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