"Aufmerksamkeit wieder auf Gemeinsamkeiten lenken"
Tagung diskutiert Beziehungen zwischen deutscher und russischer Kinderliteratur
"Die russisch-deutschen Beziehungen sind im Moment auf vielen Ebenen nicht besonders gut", sagt Katja Wiebe, Lektorin für Osteuropa an der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) auf Schloss Blutenburg. "Gerade deswegen ist es wichtig, dass Brücken im Kulturbereich erhalten bleiben." Vor zwei Jahren haben Wissenschaftler des kinderliterarischen Forschungszentrums des Instituts für Russische Literatur der Akademie der Wissenschaften am Puschkin-Haus die Münchner Bücherei besucht. "Damals hatten wir die Idee, eine gemeinsame Tagung zu organisieren", erklärt Wiebe. "Wir wollten ein spannendes Thema beleuchten: die Beziehungen zwischen deutscher und russischer Kinderliteratur."
"Nicht nur akademisch diskutieren"
Jetzt war es soweit: Wissenschaftler aus Russland, Deutschland, den USA und Österreich kamen in der IJB zur Tagung "Checkpoint Kinderzimmer" zusammen. Diskutiert wurde die Geschichte der Verflechtung deutscher und russischer Bücher für Kids und Jugendliche. Im nächsten Jahr wird "Checkpoint Kinderzimmer" in St. Petersburg fortgesetzt. Die Redner sprachen auf zwei Ebenen: Das Gebiet der Kinderliteratur unterlag wissenschaftlichem sowie künstlerischem Blick. Wiebe: "Wir wollen die Beziehungen live pflegen und nicht nur akademisch diskutieren." Die Tagung war stark besetzt: "Wir haben viele renommierte Personen dabei."
Christiane Raabe, Leiterin der IJB: "Wir fragen uns: Wie haben sich Literaturen beeinflusst, was wurde wie wahrgenommen?" Die IJB verfüge über eine exzellente Sammlung slawistischer Literatur, habe hier immer schon einen Schwerpunkt gesetzt. "Checkpoint Kinderzimmer" startete mit Büchern des 18. Jahrhunderts: Bereits 1779/1780 wurde Joachim Heinrich Campes "Robinson" ins Russische übersetzt. Die Reise ging weiter bis ins 20. Jahrhundert: Es gibt zu dieser Zeit mehr und mehr Verbindungsfäden – deutsch-russische Kunstexperimente auf dem Feld der Kinderbuchillustration oder Austausch über die Funktion von Kinderliteratur im Zuge sozialistischer Gesellschafts- und Kulturpolitik in Sowjetunion und Weimarer Republik oder später der Deutschen Demokratischen Republik. Nach einer Beziehungskrise während des Kalten Krieges besteht heute wieder Kontakt: Deutsche Übersetzungen sind in Russland präsent und geben inhaltliche Impulse. Wiebe: "Beliebte Klassiker werden gerne genommen, unter anderem Michael Endes 'Der Wunschpunsch'." Russische Kinderliteratur findet hingegen nur selten ihren Weg in deutsche Bücherregale. Dafür sind russische Protagonisten umso beliebter, ambivalente Russlandbilder werden entworfen – bestes Beispiel: Wolfgang Herrndorfs "Tschick".
Gradmesser für das Miteinander
"Checkpoint Kinderzimmer" leistet einen wichtigen Beitrag zur Verständigung, denn: Interkulturelle Literaturbeziehungen sind nicht ohne gesellschaftlichen Rahmen zu denken. Sie sind Gradmesser und Brücke für das Miteinander zweier Gesellschaften und Kulturräume – für die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenseite und das Interesse aneinander. Marina Balina, russisch-amerikanische Wissenschaftlerin, ist in der IJB zu Gast: "Ich hoffe, dass diese Tagung den Beginn eines längeren Projekts markiert. Wir müssen die Aufmerksamkeit junger Menschen wieder auf kulturelle Gemeinsamkeiten lenken, statt ständige Unterschiede zu betonen."
"Fruchtbarer Austausch"
Um Miteinander direkt erlebbar zu machen, war eine Lesung Teil von "Checkpoint Kinderzimmer": Die russische Autorin Nina Dashevskaja gestaltete den Abend gemeinsam mit ihrer deutschen Kollegin Anke Stelling. Lena Gorelik übernahm die Moderation. Es ging um Kindheitskonzepte – vielleicht sind vermeintliche Unterschiede weniger groß als angenommen. Besondere Wertschätzung bekommt die IJB nicht nur von Interessierten und Besuchern, auch der Bayerische Kulturminister Ludwig Spaenle ist begeistert. Er hat die Schirmherrschaft für die Tagung übernommen: "Das Projekt 'Checkpoint Kinderzimmer' macht eine besondere Facette der vielschichtigen deutsch-russischen Beziehungen sichtbar. Lesekultur für Kinder wird als geistiger Ort verstanden, an dem sich wie an einem Grenzübergang Autoren zu einem fruchtbaren Austausch begegnet sind und sich über Epochen hinweg gegenseitig angeregt haben."
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