"So unabhängig und selbständig wie möglich unterwegs sein"
Mobilitätstrainerin Susanne Mewes ist für Blinde eine "Dolmetscherin der sehenden Welt"
"Ich bin blind, 14 Jahre alt und alleine unterwegs - zum Beispiel zum Einkaufen, Freunde zu treffen und zum Schlagzeugunterricht", erzählt Jakob Habersbrunner. Können blinde Menschen alleine unterwegs sein? "Ja, mit einem Blindenstock, dem sogenannten Langstock, viel Aufmerksamkeit und Schulung in Mobilität und Orientierung."
Mobilitätsschulung heißt, Wege allein gehen zu lernen. Es bedeutet, mobil und selbständig zu werden, um nicht von sehenden Menschen abhängig zu sein. "Wenn man immer von Sehenden geführt wird, lernt man nicht, unabhängig unterwegs zu sein", so Habersbrunner. Seit gut sechs Jahren nimmt er regelmäßig an einer Orientierungs- und Mobilitätsschulung (O&M) teil. Dabei lernt er unter anderem, den Langstock so zu nutzen, dass er ihn als Orientierungshilfe durch Abtasten der Umgebung nutzen kann. Akustische Signale und Merkpunkte helfen ihm bei der Orientierung.
Jakob Habersbrunner stellte seiner Mobilitätstrainerin Susanne Mewes einige Fragen zu ihrer Arbeit.
Spannend, lehrreich und dankbar
Frau Mewes, warum sind Sie Mobilitätslehrerin geworden?
Susanne Mewes: Ich habe mich für diesen Beruf entschieden, da ich mich im Bereich der Arbeit mit sehbehinderten und blinden Kindern / Jugendlichen weiterentwickeln wollte. Bereits in meiner langjährigen Arbeit in einer Gruppe mit blinden und sehbehinderten Jugendlichen erkannte ich, wie spannend, lehrreich und dankbar dieses Arbeitsfeld ist. Die individuelle Förderung war es, die mich am meisten motivierte. Diese Möglichkeit und Verantwortung, jedem Einzelnen eine individuell abgestimmte Förderung zukommen zu lassen, fand ich sehr reizvoll. Nun arbeite ich mit großer Begeisterung seit fünf Jahren in diesem Beruf und freue mich auf alle weiteren, die noch kommen.
"Klassenzimmer" war draußen
Wie sieht die Ausbildung zur Mobilitätslehrerin aus?
Susanne Mewes: Die elfmonatige Vollzeitausbildung zur „Rehabilitationslehrerin für sehbehinderte und blinde Menschen im Bereich Orientierung und Mobilität“ absolvierte ich am IRIS-Institut in Hamburg. Es galt, wie in anderen Ausbildungen auch, sich ein theoretisches Grundgerüst anzueignen. Das Besondere jedoch an meinem Beruf ist, dass das „Klassenzimmer“ das öffentliche Leben sowie der öffentliche Straßenverkehr ist. Somit verbrachte ich mindestens die Hälfte meiner Ausbildungszeit in Praxiseinheiten auf den Straßen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln Hamburgs.
Den eigenen Frust aushalten
Zeitweise hatte ich eine Simulationsbrille auf, viele andere Ausbildungsstunden verbrachte ich unter einer Augenbinde und mit dem Langstock. Nur so konnte ich selbst erfahren und, sowiet es einem Sehenden möglich ist, mich in eine Sehbehinderung oder auch in das Blindsein hineinfühlen. Sowohl unter Simulationsbrille als unter der Augenbinde ging es darum, verschiedene Umweltmuster (Gebäude, ruhige Wohngegenden, Geschäftsviertel, Bahnhöfe, Öffentlicher Verkehrsmittel …) mit Hilfe unserer Lehrer neu wahrzunehmen, Strategien kennenzulernen, aber auch an vorher nicht gekannte körperliche Grenzen zu kommen oder eigenen Frust auszuhalten. Nachhaltig beeindruckt hat mich z.B., wie schwierig es ist, Passanten anzusprechen, wenn man sie nicht sehen kann, somit auch nicht „auswählen“ kann. Daran denke ich heute oft in den Mobilitätsstunden mit blinden Jugendlichen.
Markante Punkt erarbeiten
Worauf muss man in der Mobilitätsschulung im Straßenverkehr achten?
Susanne Mewes: Blinde Menschen, die Mobilitätsschulungen erhalten, wollen in ihrem Alltag so unabhängig und selbständig wie möglich in der „sehenden Welt“ unterwegs zu sein. Hauptziel des Mobilitätsunterrichtes ist, dem blinden Menschen darin ein hohes Maß an Sicherheit und Eigenständigkeit zu ermöglichen, mit Hilfe „markanter Punkte“ alltägliche Wege (zum Supermarkt, zum Schlagzeugunterricht, zur Bushaltestelle) oder das Nutzen Öffentlicher Verkehrsmittel zu erarbeiten.
Risse in der "Landkarte"
Ich vermute, dass der öffentliche Straßenverkehr für blinde Menschen eine tagtägliche Herausforderung bedeutet. Im Mobilitätsunterricht erstellt sich der blinde Mensch durch stetes Üben eine geistige Landkarte eines Ausschnittes seiner Umwelt. Aber das allein reicht nicht. Wichtig ist, dass das Gelernte im Alltag des Blinden einen Platz findet, d.h. dass es regelmäßig wiederholt wird. Längere Pausen können bedeuten, dass die geistige Landkarte „Risse“ bekommt. Sollten wir Sehenden uns mal bei einem Weg unsicher sein, gehen wir z.B. bis zu einer großen Kreuzung, schauen in alle Richtungen und dann finden wir schon den richtigen Weg. Sollte das nicht funktionieren, gehen wir rasch zum nächsten Passanten, dieser kann uns dann bestimmt in kürzester Zeit „retten“.
Für das Unerwartete trainieren
Diese Strategien funktionieren bei blinden Menschen nicht. Deshalb ist für sie das regelmäßige Üben so notwendig. Und selbst wenn dann das Konzept eines Weges gespeichert ist, kann eine Baustelle, ein laut bellender Hund hinter einem Gartenzaun, ein Umzugs-LKW, der nur kurz auf dem Gehweg parkt, die Landkarte im Kopf ziemlich durcheinander bringen. Aber so ist das Öffentliche Leben. Und genau für diese unerwarteten Momente benötigt es Übung, Lösungen im Kopf zu haben und diese im z.B. vertrauten Rahmen des Mobilitätsunterrichtes bzw. der Familie auszuprobieren. Weitere wichtige Inhalte im Mobilitätsunterricht sind: Verhalten bei Unerwartetem, Verhalten bei Verlaufen bzw. beim Verfahren mit Öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Passanten Kontakt aufbauen zu können.
Alternativen vorschlagen
Wie überquert man eine stark befahrene Straße?
Susanne Mewes: Im Mobilitätsunterricht lernen blinde Personen u.a., Straßen sicher zu überqueren. Diese Technik wird erst an gering befahrenen Straßen in ruhigen Wohngegenden geübt und gefestigt, danach folgt die Übertragung der Technik auf mittelbefahrene Straßen. An stark befahrenen Straßen rate ich immer, eine geschützte Art der Überquerung an Ampeln, „Zebrastreifen“ oder Schutzinseln für Fußgänger zu wählen. Eine weitere große Unterstützung ist, sich bei solch einer Überquerung von sehenden Passanten begleiten zu lassen. Sollte die befahrene Straße auf einem zu erlernenden Weg liegen, gibt es die Möglichkeit, sich diese zu ersparen und einen Weg durch ein angrenzendes ruhiges Wohngebiet zu gehen. Der dauert oft länger, ist jedoch meist deutlich stressfreier. Diese Alternativen zu finden und dem Blinden vorzuschlagen, ist Aufgabe der Mobilitätslehrer.
Die richtigen Fragen stellen
Wie weiß man, dass man in die richtige S-Bahn oder in den richtigen Bus einsteigt?
Susanne Mewes: Diese Frage stellt sich vor allem an Bahnhöfen bzw. Bushaltestellen, an denen mehrere Verkehrsmittel gleicher Art fahren. An größeren Bahnsteigen helfen manchmal die Lautsprecherdurchsagen. Da aber die Umgebung oft sehr laut ist, also Störgeräusche diese Durchsagen „verschlucken“, ist diese Methode nicht richtig zuverlässig. Am sichersten ist es, andere Wartende zu fragen. Am Bus ist es oft erfolgreichsten, den Busfahrer direkt anzusprechen. Im Mobilitätsunterricht übe ich daher oft mit blinden Jugendlichen, wie man in kürzester Zeit verbalen Kontakt zu Passanten / Busfahrer aufnimmt und welche Art der Fragestellung am effektivsten erscheint. So rate ich in diesen Situationen davon ab, „ja / nein“- Fragen zu stellen. Statt zu fragen „Ist es der Bus 219?“ ist aus meiner Erfahrung und eigenem Erleben in der Ausbildung effektiver, zu fragen: „Welcher Bus ist das?“
Schulung ist die Basis
Braucht man überhaupt noch Mobilitätstraining, wenn man auf den Handy schon Navigationsapps hat zum Orientieren?
Susanne Mewes: Da ich in meiner Arbeit mit blinden Jugendlichen und Kindern bis jetzt keinerlei Erfahrungen in Nutzen und „Sinnhaftigkeit“ von Navi-Apps für Blinde habe, kann ich diese Frage nicht gebührend beantworten. Ich glaube jedoch, dass es Mobilitätsschulungen als Basisschulung immer geben wird. Dass diverse zusätzliche elektronische Hilfsmittel oder ein Blindenführhund die Orientierung unterstützen können, davon bin ich überzeugt.
Auf Strukturen konzentrieren
Wie erkennt ein Blinder die Hindernisse und den richtigen Weg?
Susanne Mewes: Wir Sehenden orientieren uns auf bekannten Wegen unbewusst, d.h. wir müssen nicht mehr darüber nachdenken, können nebenbei andere Dinge tun. Auf neuen Wegen oder in unbekannter Umgebung nutzen wir z.B. Schilder, Navigationsapps, diverse Wegbeschreibungen oder fragen „uns angenehme“ Passanten.
Die blinden Kinder und Jugendlichen, mit denen ich arbeite, nutzen auf ihren alltäglichen Wegen häufig „markante Punkte“, d.h. Unterbrechungen / Gegenstände, die markant sind sowie feste und leicht wiederauffindbare Plätze im öffentlichen Straßenverkehr haben: z.B. Strom- oder Zeitungskästen, markante Hauseingänge. Auf diese „markanten Punkte“ müssen sie sich bei jedem Gehen ihres Weges konzentrieren, da sie Struktur geben, dort oft abgebogen oder überquert werden muss. So ist eine häufig geöffnete Toreinfahrt kein guter „markanter Punkt“, denn wenn das Tor eines Tages geschlossen ist, kann die geistige Landkarte gehörig ins Wanken kommen. Hinzu kommt, dass die „markanten Punkte“ vom Hinweg nicht für den Rückweg gelten. Das heißt, der Rückweg ist wie ein neuer Weg, auf dem andere „markante Punkte“ genutzt werden müssen.
Orientierung mit Schall und Tönen
Eine weitere Möglichkeit für die Orientierung blinder Menschen ist das Arbeiten mit dem Schall. So erzeugt die Spitze des Stockes beim Pendeln einen Schall, der weitere Informationen über die Umwelt gibt, z.B. ob ein Haus nahe am Gehweg steht, wann das Bushäuschen einer Haltestelle erreicht ist oder ob es ein markanter rückversetzter Hauseingang mit Überdachung ist. Hindernisse, die „störende“ Töne von sich geben z.B. rückwärtsfahrende LKW, eine Gruppe von Menschen, der Laubsauger im Herbst sind eindeutig und verwirren oft nur kurz. Dahingegen sind Hindernisse, die sich „unangekündigt, still bzw. leise in den richtigen Weg schleichen“ oft eine große Herausforderung, z.B. Radfahrer, ein in der Einfahrt abgestelltes Auto, Baustellenabsperrungen, ein Auto mit laufendem Motor, in dem ein Fahrer sitzt, der - mit bester Absicht - dem blinden Menschen mit seiner Straßenüberquerung den Vortritt lassen will.
Früh und vielfältig fördern
Gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich als Blinder zu orientieren?
Susanne Mewes: Jeder Mensch hat seine Vorlieben, egal ob blind oder sehend, alt oder jung. Blinde nutzen laut meines Wissens aus Gesprächen und nach meinen Beobachtungen im Mobilitätsunterricht hauptsächlich taktile und / oder akustische Informationen. Der Stock ist ein Hilfsmittel, deren Handhabung erst gelernt werden muss. Wenn der Blinde den Stock gut „versteht“, erhält er Infos über die Art des Untergrundes, bekommt Treppen angekündigt und andere Gegenstände im Bereich der Füße an. Auch wenn der Langstock keine Garantie gibt, ein hohes Maß an Selbständigkeit und Sicherheit ist für die Orientierung blinder Menschen dadurch aber gewährleistet.
Die Stockspitze, mit Fingern Schnipsen, das sogenannte Klicken mit der Zunge (die Klicksonar-Technik) uvm. erzeugen Schall, mit dem die blinde Person akustische Infos aus der Umwelt erhält und für die „geistige Landkarte“ nutzen kann. Wichtig ist, dass bereits in frühester Kindheit das Hören, später die Arbeit dem Schall, genauso vielfältig gefördert wird wie die taktile Wahrnehmung und das Erlernen des Umganges mit dem Langstock. Bei den blinden Schülern, die ich im Mobilitätsunterricht begleite, ist es oft eine Mischung aus beidem, es überwiegt aber oft die Arbeit mit taktilen Informationen.
"Gespann" wäre ideal
Wie vermitteln Sie ihren blinden Schülern die Fähigkeit sich richtig einzuschätzen?
Susanne Mewes: Ich versuche, wertschätzend zu bestärken, Grenzen klar zu benennen und z.B. das Verhalten des Blinden für die „Sehende Welt“ zu spiegeln. Manchmal empfinde ich mich als eine Art „Dolmetscherin“ der Sehenden Welt für die blinden Jugendlichen. Des öfteren wünsche ich mir einen blinden Mobilitätslehrer an meiner Seite, denn ich glaube, dass wäre das beste „Gespann“ für eine optimale Förderung der Mobilität und Orientierung blinder Menschen.
Lernen durch "kontrolliertes Verlaufen"
Wie in vielen anderen Lebensbereichen ist es im Mobilitätsunterricht spätestens ab dem frühen Jugendalter wichtig, im Straßenverkehr Grenzen selbst zu erleben, Unterstützung offensiv zu erfragen, eigenverantwortlich zu reagieren, aber auch Verantwortung für andere Passanten zu übernehmen. Natürlich wird es, im Rahmen dessen, was ich beeinflussen kann, nie gefährlich, denn ich bin immer in der Nähe, um bei Bedarf abzusichern. Aber zu hören, wie weit ein Auto entfernt ist, wie schnell es fährt und ob die eigene Überquerung sicher funktioniert, kann der Jugendliche nur selbst herausfinden. Am Anfang bin ich sehr nah, ich melde rück und korrigiere bei Bedarf. Je realistischer die eigene Einschätzung aber ist, desto größer wird mein Abstand. Und so lernt die blinde Person auch in anderen Schulungseinheiten Stück für Stück, sich richtig einzuschätzen. Zum Beispiel ist es oft lehrreicher, sich im Mobilitätsunterricht „kontrolliert“ zu verfahren bzw. zu verlaufen und dies selbst zu merken. Danach eigene Ideen zu haben und diese, erst unter Anleitung, später jedoch selbständig anzuwenden, hilft der realistischen Selbsteinschätzung mehr als es in „Stell dir mal vor“- Theorie durchzusprechen.
Liebe Frau Mewes, vielen Dank für das Interview!
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH