"Alle Prognosen, die den Untergang vorhersagen, glaube ich nicht"
Die Regeln ändern sich: Einzelhändler stehen vor großen Herausforderungen und versuchen, neue Spielräume zu nutzen
Verbraucher wollen dort einkaufen, wo sie wohnen. Der Einzelhandel in ihrer Nachbarschaft ist unverzichtbar. Städte und Gemeinden brauchen ihn sowieso, denn er legt mit seiner Steuerkraft das Fundament für Infrastruktur, soziale und kulturelle Angebote.
Aber: "Für den Einzelhandel wird es immer schwieriger", sagt MdL Michael Piazolo von den Freien Wählern. Digitaler Wandel, technischer Fortschritt, sich änderndes Konsumverhalten und Fachkräftemangel verändern die Rahmenbedingungen für die Händler massiv. Welche Risiken birgt das - und welche Chancen? Die Landtagsfraktion der Freien Wähler lud Münchner Einzelhändler zu ihrem Wirtschaftsforum in den Landtag ein, um sich mit ihnen auszutauschen.
An der Seite der Kleinen
"Der Online-Handel ist eine Bedrohung, aber ich sehe auch viele Chancen, weil man die Herausforderungen gestalten kann", meint Michael Piazolo. Die Freien Wähler seien dabei vor allem an der Seite der kleinen und mittleren Unternehmen - "die ganz großen schaffen das alleine."
Jeder wolle diese Traditionsbetriebe haben, sie machen das Flair der Stadt aus. Solche Geschäfte im Viertel fühlen sich inzwischen jedoch oft "wie Exoten in der eigenen Stadt", klagt Susanne Particus (Brillen Müller). Der Internet-Versandhandel kenne keine Auflagen etwa zu Brandschutz und Hygiene, keine Ladenschlusszeiten und oft auch keine Produktqualität. "Es wird mit zweierlei Maß gemessen", fasst Particus zusammen. Ihr Mann Christian ergänzt: "Mir geht es um einen fairen Handel. Das Verhältnis von Off- und Online ist aber nicht mehr fair."
"Sozial allein reicht nicht!"
Benedikt Gleich lebt mit seinem Buchversand Buch7 von einem Online-Geschäft, sieht sich aber als "soziales Gegenmodell" im Web: Als "Kleiner" könne er nicht Millionen Titel auf Lager haben wie Amazon, also braucht es andere Alleinstellungsmerkmale. "Das Wichtigste: keine Versandkosten, Schnelligkeit und soziale Apekte!" 75 Prozent seiner Gewinne gibt Buch7 an soziale, kulturelle oder ökologische Projekte weiter. Immer mehr Menschen interessieren sich für diesen Weg, allerdings müssen auch die ökonomischen Faktoren stimmen, unterstreicht Gleich: "Sozial allein reicht nicht!"
"Der Preis ist das Entscheidende", glaubt Christian Lüttin (Kaufhof). Dafür nehme der Kunde im Internet oder am Smartphone sogar eine immer umfassendere Datensammlung in Kauf. "Der Kunde wird extrem gläsern", warnt er.
"Die Probleme sind andere"
"Viele Läden vor Ort haben sich mit dem Internet arrangiert", wendet Rene Götz ein, "Amazon ist nicht mehr schneller als der Buchhändler in meinem Viertel. Auch der bringt die Bücher nach Hause, bietet mehr Service und ist mit dem 'Kaffee dazu' längst Anlaufpunkt im Viertel geworden."
Die Probleme seien ganz andere: die vielen bürokratischen Auflagen der Stadt. Das fange mit der Frage an, ob ein Händler einen Blumenkübel vors Geschäft stellen dürfe, und höre bei der Frage nach längeren Öffnungszeiten längst nicht auf. "Natürlich will keiner Wildwuchs, aber die Stadt geht oft zu streng vor", findet auch Christian Lüttin, "das ist nirgendwo sonst so wie in München."
"Wir würden gerne mal am Sonntag öffnen", sagt Susanne Particus, "aber wir dürfen nicht." In der Innenstadt und in den Umlandgemeinden ist das möglich, in den Vierteln dazwischen nicht, so Dieter Schneiders Erfahrung: "eine offensichtliche Benachteiligung".
"Länger zu öffnen ist in München nicht machbar", bedauert Rene Götz. "Wir haben lebendige Stadtteile mit Tradition und Beständigkeit, da kann sich München glücklich schätzen. Gebt den Vierteln diese Chancen!"
Michael Piazolo setzt dabei auf individuelle Lösungen zum Ladenschluss - pauschale Regelungen seien für kleine Geschäfte schwieriger umzusetzen, die sich ohnehin flexible Regelungen wünschen.
Und wieder geht es um Chancengleichheit, so Lüttin: "Das Internet hat 24 Stunden auf. Ich möchte auch mal bis 21 Uhr öffnen können - das heißt ja nicht, dass ich das auch ständig muss!"
"Heilfroh, dass es Kaufhof gibt"
Der Kaufhof-Mann sieht sich und die "Kleinen" im selben Boot und in Konkurrenz zu den ganz großen Einkaufszentren: "Center funktionieren in München in der Regel nicht. Wo es sie gibt, profitieren die Kleinen in der Umgebung nicht."
Lücken im Kaufhof-Sortiment seien Chancen für die Kleinen. "Für uns ist es wichtig, dass diese Geschäfte anbieten, was wir nicht haben. Davon profitieren wir auch!" Rene Götz und Dieter Schneider bestätigen: "Kaufhof hat sich immer in den Stadteil integriert und man ist heilfroh, dass es den Kaufhof im Viertel gibt!"
"Ganz andere Mechanismen als bisher"
Michaela Pichlbauer rät den Händlern, diese "kleinen" Schwierigkeiten im Gesamtbild mitzudenken: Der Handel sei stabil, Wachstum sei aber nur noch online zu verzeichnen. "Es entwickelt sich digital eine ganz andere Wirtschaft. Es ist ein reiner, harter Verdrängungswettbewerb. Die Regularien, nach denen das funktioniert, sind ganz andere Mechanismen als bisher. Darauf muss man sich einstellen, sonst zieht der Wettbewerb vorbei!"
Der Gegensatz, so Benedikt Gleich, sei dabei nicht On- gegen Offline, sondern Global gegen Lokal. Alle in einem Viertel seien mit denselben Vorschriften konfrontiert. Wer aber am anderen Ende der Welt sitze, dem sei es egal, was die Arbeiter hier verdienen und ob Steuern hier eingesetzt werden können. Die kleinen und mittelständischen Betriebe vor Ort sind für die soziale Struktur wertvoller, das sollte sich auch steuerlich auswirken. Verbraucher sollten Angebote hinterfragen: Sichern sie Arbeitsplätze und Steuern vor Ort? Oder bringen sie Sklavenarbeit und Umweltverschmutzung?
"Die Mischung muss stimmen"
Für Michael Piazolo macht daher ein Schulfach "Alltagswissen" Sinn, in dem solche Zusammenhänge erklärt werden. Schließlich seien auch die Jungen am Erhalt der Strukturen ihrer Stadt interessiert. Man müsse sich nur bewusst machen, welchen Einfluss das eigene Einkaufsverhalten hat. Rene Götz rief den Handel dazu auf, "emotionaler" zu werden. Man müsse auch die App-Nutzer erreichen, denn: "Die Mischung muss stimmen!"
"Die eine dürfen nicht völlig eingeschränkt werden, die anderen nicht völlig frei agieren", meint ähnlich Piazolo. Die Politik könne passende und zugleich attraktive Rahmenbedingungen schaffen. Er riet den Händlern, weniger Angst zu haben. "Jeder sieht doch seine Verantwortung für sein Viertel. Versuchen wir, Spielräume zu gewinnen und die Chancen zu sehen."
"Alle Prognosen, die den Untergang vorhersagen, glaube ich nicht", unterstreicht Pichlbauer. "Die Dramatik ist nicht ganz so groß, das ist beruhigend." Natürlich gebe es Umsatzrückgänge, "aber der beste Trick der Großen ist, zu sagen, dass es immer nur um Größe geht." Sie sieht keinen Grund für Angst: Um alle Herausforderungen könne man sich kümmern und sie anpacken. "Wenn sich die zusammentun, die an die eigenen Stärken glauben, geht es immer weiter!"
Gesprächsteilnehmer:
MdL Michael Piazolo (Stadtvorsitzender Freie Wähler München)
Benedikt Gleich (Geschäftsführer buch7.de GmbH)
Rene Götz (Stadtfavoriten)
Christian Lüttin (Geschäftsführer Galeria Kaufhof Rotkreuzplatz)
Susanne und Christian Particus (Brillen Müller, Laim)
Michaela Pichlbauer (Vorständin der Rid Stiftung)
Dieter Schneider (Wochenanzeiger Medien GmbH)
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