"Niemand schreit auf!"
Claus Fussek ruft dazu auf, die Pflege zur "Schicksalsfrage der Nation"zu machen
"Alle sind für eine sehr gute Pflege", meinte Claus Fussek, "ich habe noch keinen Menschen erlebt, der nicht dafür ist. Aber wie kann es dann sein, dass wir Jahrzehnte darum kämpfen, wenn es doch gar keine Gegner gibt? Das ist absurd!" Der Sozialpädagoge sprach beim sozialpolitischen Nachmittag des VdK am letzten Tag des Haderner Dorffestes. Zum 15. Mal hat der VdK-Kreisverband bereits diesen Nachmittag organisiert. Kreisvorsitzender Günter Jockisch gedachte des "eigentlichen Urhebers" des Zusammenseins der vielen VdK-Verbände: des im Oktober verstorbenen Volker Wettmann. "Wir werden diese Veranstaltung in seinem Sinne weiterführen", so Jockisch.
Jeden kann es treffen
"Jeder kann auf Pflege angewiesen sein", sagt Ulrike Mascher. Die VdK-Präsidentin erinnerte daran, dass jeden das Schicksal treffen kann, Pflege zu benötigen - sei es als Pflegefall oder als Angehöriger eines Patienten. Der demographische Wandel wird auch diesen Bereich völlig verändern: "In 30 Jahren gibt es in Deutschland mindestens doppelt so viele Pflegebedürftige wie heute!" schrieb die bayerischen Pflegeministerin Melanie Huml in einem Grußwort an die Haderner (Huml erwartet im Juni ihr zweites Kind und kam daher nicht ins Festzelt).
Demenzkranke endlich mehr unterstützen
Der VdK fordert daher die benötigte Hilfe und Unterstützung für die Betroffenen ein. Nach den zuletzt durchgesetzten Erfolgen in der Rentenpolitik sei dies "der nächste große Brocken", meinte Ulrike Mascher. "Wir brauchen endlich auch Leistungen der Pflegeversicherung für Demenzkranke", unterstrich sie. Auch die Reha müsse gestärkt werden: "Auch alte Menschen haben Anspruch auf Reha!" Die VdK-Präsidentin sprach sich zudem für eine angemessene Bezahlung der Pflegekräfte aus: "Wer Menschen pflegt, darf doch nicht schlechter bezahlt werden als die, die Maschinen bedienen!"
"wir schämen uns nicht"
"Niemand würde darüber diskutieren, ob Kinder in einer Krippe gewickelt werden sollten", meinte Claus Fussek, "niemand käme auf die Idee, wehrlose Kinder möglichst lange in einer Windel liegen zu lassen, damit das Personal Zeit spart." Bei alten Menschen sei das aber gängige Praxis: "Da schämen wir uns nicht, wenn wir aus Zeitmangel Menschen mit 'hochvolumigen Windeln' versorgen."
"Können Sie sich vorstellen", fragte Fussek seine Zuhörer im Festzelt, "einen Säugling tagelang allein in einem Zimmer liegen zu lassen und nur hineinzugehen, um ihn zu füttern, zu wenden und zu wickeln? Im Pflegebereich haben wir uns daran längst gewöhnt!"
"Mehr Geld für 'schlechte' Pflege"
Leidenschaftlich rief er dazu auf, die längst bekannten Lücken in der Pflege endlich zu schließen. 95 Prozent aller 80-Jährigen könnten mit einer Reha zuhause wohnen bleiben, sagte er. "Das wissen wir seit 1991!" Doch statt daraus Konsequenzen zu ziehen und entsprechende Maßnahmen zu ermöglichen, werden nur eine Studie nach der anderen dazu gemacht.
Stattdessen zahle sich schlechte Pflege aus, kritisierte Claus Fussek: Für "Pflege in Betten" bekommen die Heime mehr Geld. "Wie soll denn Reha stattfinden, wenn wir seit Jahrzehnten schlechte Pflege belohnen?" fragte Fussek. "Das Schlimme ist: Es passiert nichts. Niemand schreit auf - nicht die Kirchen, nicht die Wohlfahrtsverbänden." Das Thema Pflege müsse endlich zur "Schicksalsfrage der Nation" werden, so Fussek.
"Wo sind die Kinder?"
Pflegekräfte und Angehörige rief Fussek auf, sich zu solidarisieren, "dann seid ihr mächtiger als alle Piloten und Lokführer!" Pfleger sollten nur noch das dokumentieren, was sie wirklich leisten können. Jetzt gebe es stattdessen eine flächendeckende Dokumentationsfälschung in der Pflege, so Fussek. Auch die Angehörigen seien gefordert, sich um ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder zu kümmern: "Wo sind die Kinder? Wo sind die Angehörigen?", fragte Fussek, "wir Angehörige können nicht nach der Heimaufsicht rufen, damit diese nachsieht, wie es unseren Eltern geht!"
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